WG77 – Briefentwurf an Alma Mahler
Falkenhagen (Miłocice, Kreis Miastko) und nach Berlin im Zug, zwischen Samstag, 1. und Montag, 3. Oktober 1910

dann \ich/ lag ich stundelang
abends still \im Bett/, nicht
imstande zu denken
um die Lieblichkeit
dieser Stunde durch
keinen Le irdischen Laut
zu stören, nicht im
stande zu denken, in
\einer/ seligen Vergeßenheit, als
hättest Du mir Lethe
gegebenA – Das sind wieder
ganz neue Erlebnisse, meine
Alma; mein Zustand
grenzte an Verzückung.
ich hörte eine wunder-
volle Musik, ganz ein-
fache, große Töne, in
meinem Un Schmerz
←2017_1642.1749.1r→
Kummer ist es mir
noch nicht geglückt vom Lärm
des Tages die Töne wieder-
zufinden, aber ich bin
sicher, sie daß ich sie
plötzlich wieder hören
werde. Dann werde \will/
ich sie bewußt nicht
wie meinem Gedächtnis
einprägen, da ich Noten
nicht schreiben kann.
In von jener Stunde
ist nun

 Mit Deinem zweiten
TelegrammB hast Du
mir unbeschreibliche
Freude bereitet, ich hatte
an die Möglichkeit dort
eine Nachricht von Dir
zu finden nicht ge-

[am linken Blattrand, gedreht:]
Es bringt so nahe an uns welche Stunden zw. Geben u
Nehmen liegen
←2017_1642.1750.1r→
dacht, ich danke Dir für
diese liebe Überraschung

_____
An meinem Bau hier hatte
ich einige Freude, wie gerne
wollte ich ihn Dir zeigen –
Herr von A[rnim]C ist ein lieber
Mensch, mit dem sich Arbeiten
läßt er steckt voller
Idealismus ohne dabei
das vernünftige Gleichge-
wicht zu verlieren. Ich hatte
eben mit ihm einen
interessantes Gespräch
über die deutsche Land-
wirtschaft. Er stellte
als Ideal der Zu-
kunft das private
Mittelgut von 1000
←2017_1642.1751.1r→
– 800 Morgen Land hin
M. E. wird die Entwicke-
lung ganz andere Wege
gehn \einschlagen/. Auf allen sämtlichen
Gebieten des \heutigen/ öffentl
Lebens bedeutet heute \hat/
organisierte \Groß-/ Zentra-
lisation allein Bedeu-
tung. In der Landwirt-
schaft (Großbanken, Groß-
unternehmen, (Warenhäuser)
Großindustrie) Die Land-
wirtschaft ist noch zu
monarchisch und in den
Händen der Reaktionären.
Ich bin \aber/ überzeugt, daß
sich Landes\herrl/###
bilden werden, die
←2017_1642.1752.1r→
nach dem Prinzip der
Arbeitsteilung und ver-
möge ihrer Kapitalkraft
die rentabelste Bewirt-
schaftung finden werden
und gleichzeitig der Ver-
kaufsmarkt ihrer Pro-
dukte trustartig selbstän-
dig [!] regeln werden. in eigener
Regie behalten, wie das
in Amerika schon tat-
sächlich der Fall ist.
Meinem entschieden mehr
Reaktionären Empfinden
ist dieser Lauf der
Dinge entschieden anti-
pathisch, so sehr mich
die Großintelligenz
interessiert.
←2017_1642.1753.1r→
Aber ich fürchte Dich zu
langweilen; laß uns
lieber Du mußt Dich
darüber wundern, wie
ich wechselnd der Ton in
meinen Briefen ist,
sie entstehen \aber/ ruckweise
oft liegen Stunden
zwischen den einzelnen
Sätzen.

 Man kommt in
der Welt nur durch
die Frauen vorwärts

 Ich muß bald bald
zu Dir, ich verfluche
dieses langatmige
Schreiben, du mit einem

 \zuwenig ###/
←2017_1642.1754.1r→
einzigen Händedruck
Liebkosung meiner
Hände sagt \würde/ Dir mehr
als alle meine Briefe [sagen]
Dieses Wiedersehn wird
unbeschreiblich schön
es benimmt mir den Atem
wenn ich daran denke
Sende mir ein Taschentuch
von mit Deinem Par-
füm, bitte, bitte.

 Ich bin in einem
Zustande von Verträumt-
heit und Endgeisterung [!]
So intensif war ich noch
nie in meinem Leben
bei einer Sache. Ich denke
durch Dich und für Dich
←2017_1642.1755.1r
Du begleitest mich überall-
hin; wenn ich in ein
Automobil steige, sage \rufe/
ich leise, komm Almi,
alle Beobachtungen
teile ich Dir mit.
Spricht jemand neben
mir laut, fahre ich
auf wie ein Nacht-
wandler.

 In dem Bewußtsein
dieses Zustandes liegt
meine Seligkeit

 Mir kommt es
so vor, als hätte Dich
jener BriefD enttäuscht
verstehe ihn nicht falsch
meine Almi, ziehe nicht
falsche Schlüsse auf ein Zu-
sammenleben